Nora Imlau betrachtet in ihrem Aufsatz „Falsche Freunde“ (https://www.nora-imlau.de/falsche-freunde/) die bindungsorientierte Elternschaft als gefährdet, zum Opfer einer Unterwanderung von „Rechts“(sic.) zu werden. Wörtlich schreibt sie aber noch ein bisschen mehr: „Womit wir wieder bei der bindungsorientierten Elternschaft wären. Die für eine Unterwanderung von rechts damit geradezu den idealen Nährboden bereitet.“
Schaue ich ganz genau hin, so geht sie doch ganz sachte über den warnend erhobenen Zeigefinger hinaus. Das vordergründige Opfer, die bindungsorientierte Elternschaft, ist aus ihrer Sicht durchaus auch aktiv als Täter. Denn sie, die bindungsorientierte Elternschaft, bereitet ja den idealen Nährboden für die Unterwanderung von rechts. Das scheint ein Tatbestand zu sein.
Zu diesem gut versteckten Vorwurf, nehme ich – auch aus autobiografischer Sicht – gerne Stellung.
Das Dritte Reich (Rechts) war ein zutiefst bindungsfeindliches Regime, das die Bedürfnisse nach Bindung in den Familien mit Füßen trat. Folglich ist Bindung zwischen Eltern und Kindern eher un-rechts. Hier zwei Beispiele:
Kopulationsheime
Es wurden arische Kinder außerfamiliär und in Heimen gezüchtet. Diese Zucht galt einer neuen arischen Elite. „Kopulationsheime“ nannte die Schriftstellerin Sybille Lewitscharoff die Lebensborn-Heime, die rassistische Zuchtanstalten waren. Ziel der Lebensborn-Heime, laut ihrer Satzung: „Rassisch und erbbiologisch wertvolle werdende Mütter unterzubringen und zu betreuen, bei denen nach sorgfältiger Prüfung der eigenen Familie und der Familie des Erzeugers (…) anzunehmen ist, dass gleich wertvolle Kinder zur Welt kommen, für diese Kinder zu sorgen, für die Mütter der Kinder zu sorgen…
Was ist aus diesen Kindern, die ohne Familien aufwachen mussten, geworden?
Die Sendung MDR Zeitreise beantwortet diese Frage: „Die meisten von ihnen leben bis heute in Deutschland, ohne die Details ihrer Vergangenheit zu kennen. Sie sind traumatisiert, leiden zeitlebens unter Verlustängsten und haben Schwierigkeiten, Beziehungen und Bindungen einzugehen. … Viele Lebensborn-Kinder vermeiden es, über ihre Herkunft zu sprechen. Sie fürchten die Macht der Mythen, die sich um die Organisation ranken und ein schlechtes Licht auf die Mutter, den Vater und auch auf sie selbst werfen.“
https://www.mdr.de/zeitreise/lebensborn-heime-sex-fuer-fuehrer-volk-und-vaterland100.html
Trennung innerhalb des Elternhauses von Geburt an
Die Mütter im Dritten Reich wurden systematisch dazu angehalten, ihren Säuglingen, Kleinindern und Kindern Bindung zu verweigern, bzw. vorzuenthalten.
„Die Lungenfachärztin Johanna Haarer schrieb 1934 den später in fast jeder Familie vorhandenen Erziehungsratgeber: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, in welchem sie die nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen fast flächendeckend verbreitete. Unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ wurde es im Carl-Gerber-Verlag, Nürnberg, zum letzten Mal im März 1996 (!) aufgelegt. Die Gesamtauflage betrug bis dahin ungefähr 1,2 Millionen.
In dem Ratgeber empfiehlt sie den jungen Müttern, für ihre Säuglinge insofern „nicht da zu sein“, als sie ihnen versagende Kälte verordnet, wenn es um die Befriedigung der kindlichen Bildungsbedürfnisse geht. Das fängt schon unmittelbar nach der Entbindung an. In einem Interview zu ihrem Buch: „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ beschreibt Sigrid Chamberlain, selbst Opfer dieser Erziehungsmethode, den Lebensanfang vieler nach Haarer erzogenen Neugeborenen im Dritten Reich:
„Das Kind soll tags wie nachts in einem stillen Raum für sich sein. Die Trennung von Familie und Kind beginnt gleich nach der Geburt: Sobald der Säugling gewaschen, gewickelt und angezogen ist, soll er für 24 Stunden allein bleiben. Erst danach soll er der Mutter zum Stillen gebracht werden. Von der ersten Minute des Lebens an wurde also alles getan, um die Beziehungsunfähigkeit zu fördern. Alles war verboten, was Beziehung förderte.“ (Chamberlain,S. (5. 2009). Anleitung zur Kaltherzigkeit. Säuglingspflege im Nationalsozialismus;
http://www.psychosozial-verlag.de/catalog/rezensionen.php?id=1298
B. Tambour Interviewer“) (aus: Selhorst, Stefanie, Eltern wollen Nähe. Verteidigung einer Sehnsucht 2016)
Für Hitler waren Trennung und Bedürfnisferne im Elternhaus ein modernes Anliegen:
„Was wir von unserer deutschen Jugend wünschen, ist etwas anderes, als es die Vergangenheit gewünscht hat. In unseren Augen, da muss der deutsche Junge der Zukunft schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Wir müssen einen neuen Menschen erziehen, auf dass unser Volk nicht an den Degenerationserscheinungen der Zeit zugrunde geht.“ – Aus einer Rede vor 54.000 Hitlerjungen in Nürnberg, 14. September 1935 (Lindemann, T. (kein Datum.) Quotez.net. abgerifen am 09.04.2014 von Adolf Hitler Zitate:
http://www.quotez.net/german/adolf_hitler.htm
G. Streicher sagte 2004 in einem Vortrag „Das Kinderopfer des Dritten Reichs. Bindungsunfähigkeit als Ergebnis faschistischer Pädagogik“ auch etwas über den Nutzen der familiären Bindungsarmut für den Staat:
„Es scheint bei den Ideologen des Nationalsozialismus ein Wissen davon gegeben zu haben, dass der Mensch sich umso besser eignet, im Interesse der Expansion und des Machterhalts eines Systems zu funktionieren, je mehr seine Bindungsfähigkeit im frühen Alter zerstört wurde. Er wird zum willfährigen Werkzeug eines jeden, der ihn missbrauchen will.“ (Streicher, G. (2004) Das Kinderopfer des Dritten Reichs. Bindungsunfähigkeit als Ergebnis faschistischer Pädagogik. Festkongress zu Jirina Prekops 75. Geburtstag „Ohne Nestwärme kein freier Flug“. Zell am See, AT)
Auch Kristina Tambke kommt in ihrer Diplomarbeit (Tambke, 2010) bei Prof. Dr. Rudolf Leiprecht zu einem ähnlichen Befund:
„Durch die unsichere Bindung zwischen primärer Bezugsperson und dem Kind wurde also die Entwicklung einer sicheren individuellen Identität verhindert. Der Nationalsozialismus lieferte anschließend eine selbstfremde Ersatzidentität.“ (Tamke, K. (14.12.2010). BKGE, Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa.
Die Auswirkungen der emotionalen Trennung zwischen Eltern und Kindern im Dritten Reich sieht die Diplomandin folgendermaßen:
„Kinder lernen an ihren nahen Bezugspersonen, eigene Emotionen wahrzunehmen und zu benennen. Durch diesen Entwicklungsschritt werden Kinder erst in die Lage versetzt, anderen Menschen Empathie entgegenbringen zu können. Weil die Kriegskinder durch NS-Erziehung, Krieg und Flucht oft nicht fähig waren, ihre Emotionen wahrzunehmen, waren sie häufig auch unfähig, sichere Bezugspersonen für ihre eigenen Kinder zu werden. Weil sie ihr emotionales Innenleben ignorierten, waren sie auch für ihre eigenen Kinder emotional unzugänglich. Deshalb leiden nun auch viele der Kinder der Kriegskinder als dritte Generation unter den Folgen von NS-Erziehung, Krieg, Flucht und Vertreibung. Oft haben sie Beziehungsschwierigkeiten, weil sie nicht ausreichend dazu fähig sind, ihre wirklichen Bedürfnisse wahrzunehmen oder partnerschaftliche Zuneigung zu zeigen und zu empfangen.“
Einmal fragte ich Dr. Jirina Prekop, wie es möglich gewesen sei, die beschriebene weit verbreitete Trennung zwischen Eltern und Kindern psychisch zu überstehen. Sie sagte: „Nicht nur die Entfremdung von dem Instinktiven wirkt bis heute. Auch die Instinkttreue der tapferen intuitiven Mütter strahlt und nimmt Kreise.“
Genau an dieser Stelle kann ich Frau Imlau nicht beipflichen, wenn sich befürchtet, die Naturnähe der bindungsorientierten Eltern würden einen Weg zum „Rechts“ bahnen. Hier ist es ja ganz genau umgekehrt. Die von Hitler empfohlene moderne Abwendung vom Bindungsbedürfnis des Kindes war unnatürlich. Der komplette Schaden konnte deshalb abgewendet werden, weil es Eltern gab, die nicht modern sein mussten und ihrer intuitiven und natürlichen Hinwendung zu den Bedürfnissen ihrer Kinder nachgegangen sind.
Jetzt werde ich autobiografisch, denn ich selber habe das Glück aus zwei Familien abzustammen, die Hitlers Hereinregieren in ihre bürgerlichen Familien aktiv und erfolgreich abgewehrt haben. Auch ihre Integrität haben sie nicht dem Politischen geopfert. Das ging bei meinem Großvater sogar so weit, dass er einen hart erarbeiteten Lehrstuhl abgelehnt hat, weil er nicht in die Partei eintreten wollte.
Schutz vor Totalitarismus
Auch vor diesem Hintergrund, glaube ich, dass die beste Prophylaxe gegen ein totalitäres Regime in dem Subsidiaritäts-Prinzip gegenüber der Familie liegt. Nur wenn sie sich nicht selber weiterhelfen kann, soll sich der Staat einmischen dürfen. Und dann haben Frau Imlau und ich alles, was wir anstreben. Ein unbewertetes Nebeneinander von: Flasche und Brust; Naturheilkunde und Homöopathie; bei den Eltern zu Hause oder Kita oder auch beides je halbtags (Kihata); Erfüllung als Hausfrau und Mutter oder in der Erwerbs-Karriere; Kaiserschnitt oder Spontangeburt… Man nennt das auch Vielfalt oder in der Ökologie Diversität. Ohne Not und Hilflosigkeit in einer Familie geht das weder den Staat noch die Gesellschaft irgendetwas oder beide nen Dreck an.
Ich betrachte bindungsorientierte Eltern als Segen für unsere Gesellschaft und habe es nicht gerne, wenn sie verunsichert werden. Sie sind z. B. auch ein Segen für die Bemühungen von Kindergärtnerinnen, denn auf ihrer Leistung baut die Arbeit dort auf. In ihrer Großzügigkeit wirkt bindungszentrierte Elternschaft segensreich für alle, denn deren Kinder werden erfindungsstarke und unangepasste Erwachsene; oder einfach nur glücklich.
Aber am besten ist diese Nachricht: Sie, die bindungsorientierte Elternschaft, beugt jedem Regime über das Privatleben der Familie vor, sei es nun rechts, links, oben, unten oder kariert.