Wenig willkommen in der Ganztagswelt

Im Hamburger Café moki´s goodies ist Kindern bis 6 der Zutritt verboten, ein Mangel an Willkommenskultur, eindeutig. Aber wie ist es dort, wo nur Kinder sind? Lese ich etwas über Qualitätsoffensiven oder gar über das „Gute“ Kitagesetz, komme ich gar nicht auf die Idee, all die glamourösen diese Ganztagswelten auf ihre Kinderfreundlichkeit hin abzuklopfen. Irgendwie scheint sie vorausgesetzt. Schauen wir dem Gaul doch heute einmal ins Maul!

Erwachsene lieben das Willkommen

Der entscheidende erste Tag im neuen Job, das Blümchen auf dem Esstisch im Urlaubsdomizil oder auch nur der erste Besuch bei den zukünftigen Schwiegereltern: Wir, die Erwachsenen, legen großen Wert auf einen herzlichen Empfang und werden auch nicht müde, unsere zarten und feinen Antennen für das Willkommen unserer Person auszurichten. Willkommen-Heißen ist fester Bestandteil im korrekten Miteinander unter Erwachsenen. Zu Recht auch.

Doch was ist mit den Kindern?

Neulich erst las ich in ein facebook-post von familylab.de. Eine Rebecca Eans sagte dort, dass die Wasserflasche ihres Sohns in der Schule in eine „Schachtel der Scham“ gelegt worden war, weil er sie vergessen hatte. Sie selber habe einmal ihr Portemonnaie in einem Hotel vergessen. Dieses wäre ihr höflich zurückgegeben worden. „Wir werden unterschiedlich behandelt; nicht wegen unseres Verhaltens selber, sondern wegen unseres Alters.“ 

Diese Vermutung teile ich nicht. Ich glaube, es wird in einer von der Ökonomie beherrschten Gesellschaft letztendlich besonders derjenige höflich behandelt, der den Dienstleister auch persönlich entlohnt. Weniger respektvoll begegnet man in der Regel der Person, für die die öffentliche Hand bezahlt. Wäre Frau Eans verpflichtet gewesen, ein für sie unentgeltliches öffentliches Hotel zu nutzen, dann hätte auch sie ihre Geldbörse wahrscheinlich nicht wiederbekommen, ohne zuvor dafür beschämt worden zu sein. Sie wäre eben keine bezahlende Kundin gewesen.

Wie kommt die folgende Situation zustande?

Eine Großmutter bringt ihren Enkel in seinen Gruppenraum im Kindergarten. Statt eines Willkommens eine weit ausladende Bewegung des linken Arms der Erzieherin, der dann abrupt 20 cm vor ihren Augen stoppt. „In 3,5 Minuten können Sie mit Ihrem Kind wiederkommen, dann ist es 8.“ Karlchen, der Enkel ist fünf Jahre alt und er hat einen beitragsfreien Kita-Platz. Dem geschenkten Gaul schaut niemand ins Maul.

Dabei gäbe es in diesem Maul so viel zu sehen. Ich schau jetzt einfach mal hinein. Vielleicht finde ich dann auch eine Erklärung, warum es mit Karls früh- und spätkindlicher Bildung nicht so recht vorankommt.

Was hat Karl aus dieser kleinen Alltags-Szene gelernt?

  • Er hat gelernt, dass weder er noch seine Großmutter grundsätzlich und von Natur aus oder sogar ihrer selbst wegen in seiner Ganztagswelt willkommen sind.
  • Es dämmert ihm immer mehr, seine Erzieherin ist eine Außenstehende. Zu ihm, Mama, Papa und Oma gehört sie nicht und sie spielt in seinem Orbit nicht mit. Das wäre ja auch eigentlich egal, wenn sie keine Macht hätte. Die hat sie aber. Sie hat nicht nur die Macht, ihn und seine Spielkameraden zu maßregeln, sondern sogar seine geliebte Oma. Die, die alles weiß und die ihn, Karl, als Hilfsgärtner auserwählt hat. Noch am Samstag hat sie ihm gezeigt, wie man Kartoffeln setzt und ihm sein eigenes Beet zugewiesen. Sie kann und weiß einfach alles, diese Oma.
  • Auch heute hat er wieder einmal gelernt, die Erzieherin zu fürchten und sich den ganzen Tag still in den Hintergrund zu drücken. Will er etwas Neues ausprobieren, so schaut er vorher, ob die Erzieherin in seine Richtung schaut. Am Wochenende wird er dann Oma fragen, oder auch Papa. Doch bis dahin weiß er nicht mehr, was er eigentlich fragen wollte. Das war am letzten Wochenende auch so.

Die Ausgangsfrage war aber gewesen, wie es zu dieser Szene kommen konnte. Ganz einfach. Die Erzieherin bekommt einen recht bescheidenen Lohn für die Betreuung von viel zu vielen Kindern. Sie möchte so – so – so – so gerne jedem einzelnen von ihnen gerecht werden.

Das Dilemma der Erzieherin

Eigentlich möchte sie auch Karl morgens in seine grünen Augen sehen und ehrlichen Herzens sagen: „Schön, dass Du da bist, ich habe schon auf Dich gewartet. Erzählst Du uns heute wieder, was Deine Oma alles kann?“  Doch das kann sie nicht, weil immer zu viele Kinder an ihr zerren und die Krankschreibung der Kollegin um noch eine Woche verlängert wurde. Ja, „zerren“ ist wieder so ein abfälliger Ausdruck für eine mitunter auch zarte Bitte um Kontakt. Das wiederum zerrt am Gewissen der Erzieherin und es macht sie auch wütend. Sie ist Tag für Tag in der Situation, gegen ihr Gewissen handeln zu müssen, weil sie mehr Kindern gerecht werden muss, als ein Mensch unter natürlichen Umständen kann. Statt also mit offenem Herzen jedem einzelnen Kind ein herzliches Willkommen schenken zu können, muss sie sich über jede Krankmeldung eines Kindes freuen. Das zerrt noch zusätzlich.

So beginnt sie nachzudenken, wer an diesem Missstand die Schuld trägt. Sicher, jetzt hat sie es: Es sind die Eltern, die permanent die Betreuungszeit überziehen. So viele Eltern bringen ihr Kind zu früh oder holen es zu spät ab. Die werden ab jetzt erzogen, schließlich liegt es im Beruf der Erzieherin, Probleme erzieherisch zu lösen. Leider, sie mag es sich das selber kaum einzugestehen, ist das Problem nicht gelöst. Die 3,5 Minuten ohne Karl und sein anschließendes Zurückscheuen und Ausweichen haben ihr den Arbeitstag nicht wirklich leichter gemacht. Im Gegenteil, die die den Kontakt zu ihr scheuen, sind so fremd und seltsam…  Sie fühlt es und es spiegelt sich auch zurück: Ihr Auftreten ist nicht liebenswert, dabei ist ihr ganzes Herz voller Liebe. Aber ganz sicher ist sie im Recht. „Ach was?“, denkt sie, „In der letzten Supervision habe ich doch gerade gelernt, dass ich nicht ständig über meine Kräfte gehen soll, davon hätte am Ende niemand etwas… Die Kinder nicht und auch ich selbst nicht.“

Die Erzieherin taumelt zwischen zwei Welten hin und her:

Die Welt der Ökonomie

Bildungsökonomen, sie wähnen sich Wissenschaftler, rechnen die Kosten und den Nutzen von Kindern auf Heller und Pfennig genau aus. Den Kinderalltag flächendeckend und ganztags in Institutionen zu verschieben, ist die dringende Empfehlung dieser grauen Eminenzen. Und so sieht sie jetzt auch aus, die Lebenswelt der Kleinsten. Sie ist das Gegenteil von jenem berühmten Dorf, dessen es bedarf, um ein Kind zu erziehen. Die institutionelle Kinderwelt ist: konstruiert; konzipiert; künstlich; nicht intuitiv; berechnend; unter Bedingungen und Voraussetzungen gestellt; unflexibel; starr; kollektiv; nutzenorientiert; öffentlich; mit wenig Schutz und Rückzug; ein Minimum an freiem Spiel dafür viel Training nach Lehrplan (spielerisch, versteht sich) …

Bestandteile der Ökonomie sind das Käufliche und das Verkäufliche. In den – sagen wir einmal wenig komplexen – Vorstellungen der grauen Eminenzen kann die Maschine „Kind“ problemlos in dieses am Reißbrett geplante System eingliedert und -gefügt werden. Entsprechend mager fällt auch das Gehalt der Erzieherin aus.

Die Welt der Bindung und der Geborgenheit

Bindung und Geborgenheit sind weder verkäuflich noch käuflich. Sie entspringen dem Seelengrund und lassen sich keinesfalls als Größe in ökonomische Algorithmen veranschlagen. Beide wachsen aus dem prinzipiell unzerstörbaren Reich der unsichtbaren und nicht quantifizierbaren Liebe. Und dennoch haben Bindung und Geborgenheit – quasi als nicht beabsichtigte Nebenwirkung – ökonomische Auswirkungen. Je mehr Bindung, desto leichter fällt dem Kind der Zugang zur Bildung. Frei für den Erwerb von Bildung sind insbesondere die Kinder, die sich immerzu gut und bedingungslos versorgt, angenommen und willkommen geheißen fühlen können: „Die Bindung ist der Kontext, in dem das Kind reif wird.“ Dieser Satz stammt von dem Entwicklungspsychologen Prof. Gordon Neufeld.

Die intuitive oder sogar zusätzlich auch entwicklungspsychologisch gebildete Kindergärtnerin stößt von morgens bis abends an die Grenzen des von den Bildungsökonomen ausgerechneten Systems. Ganz einfach eben, weil Kinder keine Maschinen sind, deren Bedürfnisse sich auf frühkindliche Bildung beschränken. Und auch deren Eltern sind keine Maschinen. Eben waren wir ja Zeuge, als Karls Großmutter aus einer menschlichen Schwäche heraus 3,5 Minuten zu früh kam und so den Arbeitstakt der Kindergärtnerin störte.

Die Fragen des Kindes

Kinder sind auf der ständigen Suche nach Antworten, die nicht bis zum Abend oder Wochenende warten können. Antworten auf Fragen, die den Kern ihres Seins betreffen, sind die Voraussetzung für die kindliche Bildungsfähigkeit. Die immer selben Erwachsenen, die dem Kind ohne Unterlass und mit größter Zuverlässigkeit dienen, bereiten den Boden für die Reifwerdung. Der Kontext „Bindung“ ist die unabdingbare Bedingung für Entwicklung.

  • Wo bin ich hier gelandet? Antwort 1: Zu Hause und bei mir. Du bist da, wo ich Dich sehnlichst erwartet habe, unter meinem Schutz. Hier werde ich für Dich sorgen, damit Du groß und stark werden kannst. Antwort 2: Bei mir hier im Kindergarten. Deine Eltern haben ihn für Dich ausgesucht, weil auch ich Dich so mag, wie du bist.
  • Wo komme ich her? „Dich hat der liebe Gott geschickt.“, das war die Botschaft an unsere drei Kinder. Andersgläubige habe andere Antworten. Das Kind freut sich über diese.
  • Wer bin ich? Antwort: Du bist Du, das wirst Du später noch fühlen können. Solange Du das aber noch nicht selber erfahren hast, sind wir beide gemeinsam. Ich wähle Dich aus und du bist ein Auserwählter / eine Auserwählte. Wenn Du lachst, dann lache ich. Musst Du weinen, bist Du so lange an meiner Schulter willkommen, bis Du ganz tief spürst: „Ich kann die Lage nicht ändern, aber sehr wohl kann ich mich jetzt etwas Neuem zuwenden.“ Hast Du Angst, so schütze ich Dich. Wenn Du Mut hast, sehe ich, wie Du die Welt eroberst. Überhaupt, ich sehe Dich und höre Dich und schon manches von dem, was noch in Dir schlummert…
  • Wer steht im Zentrum meiner Umlaufbahn? Eine gute, starke Kindergärtnerin schafft es die Sonne im Universum der sie umkreisenden Planeten-Kinderschaar zu sein. Dafür braucht sie aber auch die Kompetenz, die ihr die Eltern (nicht die Behörden) verleihen. Sie selber braucht dafür den Schutz vor fremden Konzepten und Vorgaben. „Ich bin die Antwort für Dich.“, das kann ehrlicherweise nur die Kindergärtnerin sagen, die nicht von kinder- und familienfernen Erwachsenen eingeengt wird.

Die Falle für die gute Erzieherin

Will die Erzieherin ihren Kindern die Welt der Bindung und der Geborgenheit bieten und erschließen, …

Mit diesem Umstand muss sich eine Gesellschaft, die einseitig auf Kita setzt, auseinandersetzen. Die schlechte Erzieherin, die sich gegen ihre zarten und liebevollen Gefühle und ihr natürliches Bindungsstreben gepanzert hat, wird vom System der Bildungsökonomie insofern belohnt, als sie sich nicht verausgabt. Auf der anderen Seite wird die bindungsfreundliche Erzieherin sich in diesem System ständig an den Rand ihrer Kräfte bringen, sich verzehren.

Meine Apelle:

An die Leser dieses Beitrags: Schaut nicht weg, denn ich übertreibe nicht. Im meinem Malort ist mir innerhalb des letzten Monats drei Mal von Eltern bzw. Großeltern aus drei verschiedenen Kitas berichtet worden, wie sie im Beisein ihrer Kinder von Erzieherinnen erzogen oder zumindest gemaßregelt wurden.

An die Bildungsökonomen: Der wichtigste Einflussfaktor auf die Bildung ist die Bindung. Diese Größe entzieht sich Ihren Berechnungen. Sie bilden folglich die Realität falsch ab.

Die Erzieherin in der Kita mit ihrer Intuition zur Bedeutung der Bindung käme zu einem viel realitätsgetreuerem Modell. Doch wegen Ihrer fehlerhaften Abbildung des Kitaalltags wird sie zerrieben werden. Der Grund? Das bildungsökonomische Modell von der Wirklichkeit bestimmt die Rahmenbedingungen und die sehen viel Bildung und kaum Bindung vor. Das hat verheerende Folgen für das seelische Gleichgewicht aller am Kita-Geschehen beteiligten Menschen. Der einzige Mensch, der vom Unsegen Ihrer Arbeit nicht betroffen ist, das sind Sie.

An die Familienpolitiker: Geben sie den Eltern die für die Kita-Erziehung bereitgestellten Gelder selber in die Hand. Wenn diese damit zur Kita gehen, sind auch sie diejenigen, die bestimmen können, in welchem Alltagsmilieu ihre Kinder groß werden sollen. Eine solche für das Kind Schicksal schwere Entscheidung ist nämlich die höchst private Aufgabe von Eltern und nicht die des Staats. Der kann einspringen, wenn er nachweist, dass Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht werden oder werden können. Ansonsten bleibt er draußen.

Außerdem wird es Zeit, Kindergärtner/innen mindestens so zu bezahlen, wie Grundschullehrer/innen. Sie legen, wenn die Rahmenbedingungen es zulassen, mit ihrem großherzigen und einfühlsamen Bindungsangebot den Grundstein für die Befähigung des Kindes, seine Potenziale voller Freude und Unbefangenheit auszuschöpfen.