Gegen die „Enteignung“ der Kindheit

 

Über Helikoptereltern wird viel geklagt. Durch ihre ständige Überwachung und Behütung würden sie die Entwicklung ihre Kinder einschränken. Doch sind es wirklich nur die Eltern, die ihren Kindern den Entwicklungsraum nehmen? Ich möchte zunächst keinesfalls abstreiten, dass die Räume, in denen sich unsere Kinder entwickeln könnten, häufig schon vorher von Erwachsenen besetzt worden sind. Dadurch wird dann mitunter die Entwicklungsmöglichkeit der Kinder eingeschränkt.

Wenn Trainer Entwicklungsräume besetzen

Schauen wir etwas näher, was da passiert! Meine Tochter hat drei Sportarten ausprobiert. Von denen haben ihr zwei richtig gut gefallen. Bei allen dreien war jedoch der Entwicklungsraum schon von Trainern besetzt. Von Erwachsenen. Mit Entwicklungsraum meine ich hier den selbstbildnerischen Rahmen, in dem die Sportart ausgeübt wird. Der Rudertrainer hatte selber eine wunderbare Kindheit und Jugend im Ruderclub verbracht. Damals wurde der Stoff von 13 Schuljahren noch nicht auf 12 Jahre gestaucht. Nun fordert er von den gehetzten Kindern heute, dass sie die Beschaulichkeit vergangener Tage im Ruderclub genauso erleben, wie er es damals unter ganz anderen Lebensumständen tat. Diese quengelnde Forderung steht dann im Raum, ja sie besetzt den gesamten Raum der möglichen Entwicklung und vertreibt auch die Jugendlichen, die gerne rudern, den Club aber nicht als ihre Heimat ansehen.

Ein Musikschullehrer, der von seiner Musik sehr ausgefüllt ist, kann Kinder damit anstecken. Das geht. Er müsste aber seine Begeisterung ein Stück weit nach hinten stellen, damit die Kinder diese Musik auch für sich selbst entdecken und erobern können, sonst wird es nie die ihre. Kinder sind von Natur aus Eroberer. Sie wollen Neuland entdecken und das können sie nur, wenn die verantwortlichen Erwachsenen, seien es nun Eltern, Trainer oder Lehrer, ihre eigenen Ideen und Ideale bescheiden in den Hintergrund stellen und so den Raum für die Kinder öffnen.

Der Dienst von Türstehern

Idealerweise betätigen sich die Erwachsenen als Türsteher und schützen die Eroberer vor Störungen. Das wäre ein Dienst, der für die kindliche Entwicklung ausgesprochen nützlich wäre. Solche Störungen sind äußere und vor allem innere Einflüsse,

  • die übertriebene Beachtung,
  • das Lob und der Tadel,
  • der ungebetene Kommentar von Außenstehenden und, was ganz schlimm ist,
  • die Aufforderung zur Rechtfertigung. Und, im Zeitgeist fest verankert, der Missbrauch kleiner Kinder für
  • die Öffentlichkeitsarbeit von Schulen und Institutionen.

Ich werde nie die Weihnachtsfeier an der Schule meiner Kinder vergessen, auf der ein kleines Mädchen – es war vielleicht sieben oder acht – nach ihrer fünften Geigenstunde den versammelten Eltern und Großeltern ihre Töne vor-quietschte, während der Großvater Filmaufnahmen machte und die Kamera des Zeitungsredakteurs blitzte. Wie schön hätte das Kind in der Zeit zu Hause spielen und vielleicht die Töne ihres neuen Instruments erforschen können. Wären die Eltern Türsteher gewesen, so hätten sie ihrer Tochter den Auftritt verboten. So einfach ist dieser Dienst.

Vom Konzertbesucher, der plötzlich ins Leere stürzt

Es gibt niemanden, der es besser vermag zu beschreiben, was mit einem Kind passiert, wenn Erwachsene ihm seinen Spielraum besetzen, als Arno Stern:

„Das Kind setzt ein Haus in das Blatt mit einem dreieckigen Dach und einem schräg daraus wachsenden Schornstein. An der Wand befestigt es zwei Fenster und eine Tür mit einem langen nach unten führenden und dann zur Seite abgebogenen Weg. Aus dem Schornstein treibt Rauch weit nach oben. Oben ist ein schmaler blauer Streifen – als Himmel gedacht, als Raumbegrenzung notwendig – und darunter im Raum hängt eine Sonne mit Gesicht und vielen Strahlen. Zu beiden Seiten des Hauses wachsen zwei Bäume mit roten Früchten in der runden Krone. Und Blumen stehen auf langen Stängeln zwischen den Stämmen und dem Haus. Gras kommt auch hinzu, in kleinen grünen Strichen, so nahe aneinandergereiht, dass es als untere Blattbegrenzung dient.

Jetzt kommen auch noch Vögel in den Raum, jeder wie ein flaches, abgerundetes V. Immer mehr Vögel kommen dazu, immer dichter füllen sie den Zwischenraum, der unterhalb des Himmels noch leer geblieben war.

Und während dies geschah, dieses Auffüllen des Raums, das Wimmeln, das immer stärker wurde und zu größter Begeisterung veranlasste, da erschien plötzlich aus heiterem Himmel der Erwachsene. Aus seiner freundschaftlichen Maske heraus tönte seine Stimme fast, als meinte er es gut, und der sagte: „Was zeichnest du denn. Nun erklär mir mal, was du alles dargestellt hast! Soll das Rote eine Sonne sein? Wohin soll denn der Weg da führen? Sind damit wohl Vögel gemeint?…“

Sein Auftritt war wie der plötzliche Abbruch im Verlauf eines Konzerts: Der Zuhörer ist von einem Ablauf ganz eingenommen und schwebt in der Musik, und plötzlich stürzt er ab ins Leere.“ (aus: Stern, Arno (2005 S. 43 f) Das Malspiel und die natürliche Spur. Klein Jasedow: Drachen Verlag)

Als ich Arno Stern kennenlernte, sprach er bezüglich eines solchen Verhaltens von Erwachsenen gegenüber Kindern von „Enteignung“. Sein wir also wahlweise Helikopter zur Sichtung von Enteignern oder Türsteher, die ihnen den Weg versperren. So schützen wir die Entwicklungsräume unserer Kinder, während diese selbst in aller Ruhe ihre eigene Welt einrichten und erobern.

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