Einzelfallhilfe für einen verhinderten Piraten

 

Eine Sitzung

Letzte Woche saß ich in einer Sitzung. Es ging um Kinder, die in der Schule stören und um deren Einzelfallhelfer. Eine Dame, sichtlich ratlos: „Stellt Euch vor, in Nordrheinwestfalen kann jeder Einzelfallhelfer werden. Jede Hausfrau kann sich für den Job melden und gilt dafür als qualifiziert!“

So eine Hausfrau bin ich auch

Ich bekam große Augen und staunte. Zum einen weil ich ganz tief in meinem Selbstverständnis auch jetzt noch – während mein jüngstes Kind Abitur macht – eine „Hausfrau und Mutter“ bin. Das ist mein Traumberuf, den ich als ausgesprochen frei und kreativ erlebe. Die Herausforderung für die Hausfrau und Mutter ist es, ein Umfeld für die gesunde Entwicklung der ganzen Familie und auch für die eigene zu schaffen. Sie hat die Autonomie und die Kompetenz dafür, verantwortet das Klima im Haus. Das Strukturieren der Abläufe liegt in ihrer Hand und zudem schützt sie die Kinder vor zu vielen oder auch schlechten Einflüssen. Immerzu wacht sie darüber, dass das Kind frei spielen kann. Im Spiel – besonders auch im Rollenspiel – probt das Kind seine eigene Wirksamkeit und muss dabei noch keine Verantwortung übernehmen. Es kann sich ganz und gar, mit Leib und Seele seinem Tun hingeben. Dabei zeigt es all die Fähigkeit und Verhaltensweisen, die man später beim Einzelfall-Hilfsbedürftigen so schmerzlich vermisst.

  • Es ist schwer ablenkbar,
  • es wiederholt,
  • es ist zielstrebig und
  • es ist ganz bei sich und
  • setzt sein Konzentrationsvermögen ein.

Das Spiel ist in vielerlei Hinsicht die unbedingte Voraussetzung für die kindliche Entwicklung und sein schulreif Werden. Eben jene Reife, die viele der körperlich gesunden Kinder mit Einzelfallhelfer-Bedarf missen lassen.

Der Berufsersatz

Vor dem Hintergrund meines Wissens um die Leistung der Hausfrau denke ich darüber nach, was Kindern statt ihrer angeboten wird. Schon das Wort „Einzelfallhelfer“ mobilisiert bei mir innere Widerstände. In meinem Beruf ist das Kind kein „Fall“ sondern ein einmaliger, unverwechselbarer Mensch. Das ist eben der Unterschied zwischen der öffentlichen und der privaten Sichtweise. Und seien Sie gewiss, es ist genau diese Sicht auf seine Person die das Kind sehr wach und sensibel wahrnimmt, verinnerlicht und die es dann prägt.

Nun leben wir in einer Zeit, die sich durch die Kollektivierung und „Veröffentlichung“ der nichtproduktiven Alterskohorten auszeichnet, um den Beruf der Hausfrau und Mutter überflüssig zu machen. Das ist jetzt eben so, und das hat viele gute und auch schlechte Gründe. Dumm und hochmütig dabei ist der Gesellschaftsingenieur, wenn er über das intuitive Wissen der Hausfrau die Nase rümpft und meint, „Professionelle“ 😉 können steckengebliebene Kinder in aller Öffentlichkeit retten und sie dann doch noch nützlich machen.

Ein Meeting

Vor ein oder zwei Jahren war ich auf einem Meeting. Es ging um das Thema Spielen in der Kita. Dort wurde vom spielenden Kindergartenkind verlangt es möge, wenn es „wild“ spielt, immer die Bedürfnisse der anderen Kinder im Hinterkopf halten und sich entsprechend zügeln. Frühkindliche Sozialkompetenz, sozusagen. Das ist zwar hirnorganisch noch gar nicht möglich, hört sich aber gut an, das leugne ich nicht. Erst mit sechs oder sieben Jahren ist der Präfrontale Cortex groß genug um zwei Gefühle gleichzeitig fühlen zu können. Hier in diesem Fall:

  • Freude am eigenen Spiel und gleichzeitig
  • fürsorgliche Gefühle den anderen Kindern gegenüber.

Einzeln ist beides für das Kindergartenkind kein Problem aber beides gleichzeitig kann es nicht fühlen. Stellen wir uns weiter vor, Jonas, 4,5 Jahre, hört auf die Spielregeln im Gruppenraum und versucht gleichzeitig ein wehrhafter und vor allem wilder Pirat und ein fürsorglicher Beschützer von 2- jährigen Brio-Bahn Lokomotivführern zu sein. Hin- und hergerissen wird er beides nicht bewältigen können. Nehmen wir weiter an, diese Überforderung dauert die gesamte Kindergartenzeit an und Jonas ist ein Kind mit einem 9-Stundenvertrag. Die wertvolle Entwicklungs-Zeit während des wirklich freien Spiels, in dem er noch keine Verantwortung tragen muss, wäre ständig durch die Forderung nach Verantwortlichkeit, die er einfach noch gar nicht leisten kann, gestört worden. Genau dann könnte es passieren, dass Jonas im Schulalter gar nicht weiß, wie es sich anfühlt, sich ganz und gar auf sein Tun einlassen zu dürfen. Er durfte ja nie völlig in die Rolle des finsteren und wüsten Piraten hineinschlüpfen und tapfer die sieben Weltmeere erobern, musste er doch zugleich Lokführer-Versteher sein. Dann wird das Kind, welches zuvor gestört wurde, zum Störer. Das ist ja eigentlich ganz folgerichtig, zumindest für mich, die Hausfrau und Mutter.

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