Eine wunderbare Ergänzung zur Eltern-Kind Bindung

 

Christiane, Mutter dreier Kinder, schrieb mir:

„Ich lese gerade noch einmal Dein Buch – es ist so gut! …

Ich möchte Dir dazu meine Beobachtungen aus unserer kleinen Wohnsiedlung mitteilen: Mein Mann und ich haben ja drei Kinder, die nie eine Kita von innen gesehen haben und bis zum 5. resp. 6. Lebensjahr zu Hause betreut wurden. Die Kinder unserer Nachbarn sind Teilzeit-Kitakinder. An freien Tagen spielten alle Kinder oft draußen, altersmäßig zwischen 2 und 12 Jahren. Als wir hierherzogen, war unsere jüngste Tochter 1,5 und blieb vorerst bei mir. Mit dem Älterwerden wollte sie ihre Geschwister nach draußen begleiten, so dass ich nicht mehr ständig anwesend war. Das lief bei uns wunderbar, weil die beiden Grossen von sich aus und gerne meine Rolle übernahmen und sie draußen so gut oder noch besser als ich umsorgten. Man kann hier durchaus von Gleichaltrigen-Orientierung sprechen. Im Unterschied dazu fand ich die kleinen Geschwister der Nachbarskinder oft weinend oder von der Kinder-Gruppe zurückgelassen vor. Wenn ich die Kindergruppe beobachtete, sah ich oft Folgendes: Wenn Nina (unsere Kleinste) nicht schnell genug war oder sich weh machte, dann weinte sie und augenblicklich kümmerten sich ihre Geschwister um sie. Nie ließen sie sie aus den Augen oder ließen zu, dass ein anderes Kind gemein zu ihr war. Wenn sie nicht weiterwussten, rannte einer nach Hause und rief nach mir. Die anderen kleinen Kinder im Alter von Nina wurden von ihren älteren Geschwistern aber keineswegs so betreut, oft überhaupt nicht beachtet. Zu Hause ihr Leid klagen konnten sie auch nicht, denn entweder waren die Eltern gar nicht da, hatten keine Zeit oder schlossen sogar die Haustüre ab (!). Nun erlebten aber die größeren Nachbarskinder immer, wie Yara und Linus (Ninas Geschwister) ihre kleine Schwester umsorgten und dass ich sie auch dafür wertschätzte. Sie begannen, unsere Kinder zu kopieren, aber interessanterweise nicht, indem sie ihre eigenen kleinen Brüder oder Schwestern umsorgten, sondern, indem sie sich auch noch um Nina kümmerten. Nina war somit das bestumsorgte Kleinkind in der Siedlung (obschon sie so viel Fürsorge dann wirklich nicht brauchte).

Ich denke, Gleichaltrigen-Orientierung wie dieses Beispiel ist meiner Meinung nach eine wunderbare Alternative zur Eltern-Kind-Bindung. Sie ist kein Ersatz, sondern eine frei gewählte Ergänzung, bei der das kleine Kind erfahren darf: Ich kann mich auch auf die großen Kinder verlassen. Und die großen Kinder erfahren: Ich bin kompetent genug, ab und zu ein kleines Kind zu betreuen. Wenn ich damit überfordert bin, kann ich diese Aufgabe jederzeit abgeben.

Herzlich, Christiane

2 Kommentare

  1. Hallo Christiane,

    es ist wunderbar für Kinder, wenn sie herumstromern und ihre eigenen Erfahrungen machen können. Gordon Neufeld nennt das dann Emergenz, zu der es insbesondere bei Bindungs-Sättigung kommt. Äußerlich ist das emergente Erkunden allerdings nur sehr schwer von dem der Vernachlässigten zu unterscheiden. Du erkennst schon sehr gut, dass die Vernachlässigten Zuhause keine offenen Türen finden. Kennst Du mein erstes Buch “nur – essay zum beruf”? Da beschrieb ich diesen Unterschied. Den wesentlichen Unterschied macht eigentlich, ob die Kinder von ihren Eltern nahezu ausgesetzt werden oder ob sie hinausziehen, gerade weil sie ein sicheres Zuhause haben, in das sie jederzeit zurückkehren können, weil sie dort erwartet, willkommen geheißen und im Notfall geschützt werden. Das macht einen großen Unterschied und es macht die behüteten Kinder auch unabhängiger von den Spielkameraden. Von Gleichaltrigenorientierung spricht man eigentlich nur wenn für ein Kind die Notwendigkeit besteht, in der Gunst der Spielkameraden zu stehen. Je zuverlässiger und verantwortungsbewusster die zuständigen Erwachsenen für das Kind da sind, desto größer ist seine Unabhängigkeit von den Spielkameraden.

    Deine großen Kinder haben das Prinzip der Bindung – das ja auch den Schutz der Schwächeren durch die Stärkeren bedeutet – verinnerlicht und sind ihrer kleinen Schwester gegenüber in einer fürsorglichen Alphaposition, ganz einfach weil das Nina klein ist und ihre Geschwister groß. Kommen sie selber nicht weiter, so musst Du als im Hintergrund immer noch präsente Sonne im System aktiv werden. Die Nachbarskinder orientieren sich augenscheinlich an Deinen großen Kindern, ohne zugleich den Kontext der Bindung zu fühlen. Sie erleben das Prinzip der Bindung (der Starke schützt den Schwachen) nicht als übergeordnet und meinen deshalb, das Beschützen von Nina würde durch ihre Person und nicht durch ihr Alter ausgelöst. Deshalb bemuttern sie nur sie und nicht ihre eigenen kleinen Geschwister. Die fremden Kinder ahmen also etwas nach, dessen Prinzip sie augenscheinlich nicht kennengelernt haben. Das ist eine sehr interessante Geschichte.

    Besonders deshalb, weil sie den Unterschied zwischen dem Lernen und dem Reifwerden so deutlich veranschaulicht. Deine Großen sind, weil sie selber eine zuverlässige Bindung erfahren, zu fürsorglichen Alpha-Geschwistern herangereift. Sie haben ein allgemeingültiges Prinzip des menschlichen Miteinanders in sich entdecken können ohne im klassischen Sinne belehrt zu werden und zu lernen. Die Nachbarskinder haben gelernt, einem von vielen jüngeren Kindern gerecht zu werden. Das ist auch gut aber das Gelernte bezieht sich bei ihnen nur auf eine einzige Ausnahme. Die Früchte der Reifwerdung, so nennt Gordon Neufeld sie, die beziehen sich auf die dem Menschen innewohnenden universalen Prinzipien des Miteinanders. Konzentrieren wir Erwachsenen unsere Kräfte auf die Bindung, die die Voraussetzung und der Nährboden für die Reifwerdung ist, so werden “Lernen” und “Erziehen” ohne große Anstrengung und mit einer nahezu eleganten Leichtigkeit nachlaufen.

    Das Beispiel werte ich letztendlich als ein Indiz dafür, dass eine auf das “Lernen” fokussierte Ganzatgsbetreuung dem Aufwachsen unter Bindungsbedingungen haushoch unterlegen ist.

    Deine Stefanie

    1. Liebe Stefanie

      Sehr interessant, Deine Einschätzung unserer Situation! Ich habe nun über die Jahre so viel beobachtet und wäre oft froh gewesen, gewisse Situationen mit jemandem besprechen zu können. Es gab auch oft Momente, in denen ich nicht wusste, wie ich mich am besten verhalte. Zum Beispiel als ein Nachbarsmädchen eine Zeitlang lieber bei uns war als zu Hause. Anfangs war das für mich okay und den Eltern war es sehr Recht, aber dann gab es einmal eine hässliche Szene, als wir gerade zu Abend essen wollten – das Mädchen war noch bei uns – und ihre Mutter sie holen kam. Wir standen alle bei uns im Wohnzimmer. Das Mädchen schrie ihre Mutter an, sie käme nicht nach Hause und würde bei uns essen. Die sichtlich hilflose Mutter, der wohl erstmals bewusst wurde, dass sie irgendwie die „Kontrolle“ über (besser Bindung zu) ihre(r) Tochter verloren hatte, konnte sie nur mühsam mitnehmen. Da wurde mir bewusst, dass es nicht so einfach ist und dass ich dem Kind evtl. eher schade, wenn ich (wie Du wohl sagen würdest) die Sonnenposition übernehme. Letztlich war ich nur Ersatz und trug dazu bei, dass ihre Eltern ihre Verantwortung teilweise abgaben. Ich war von da an zurückhaltender. Damit habe ich das Mädchen aber vielleicht gekränkt…

      Herzlich, Christiane

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