Das Kind hinter den Messwerten – über den Umgang mit psychosozialer Diagnostik

 

Im Supermarkt

Neulich traf ich beim Einkaufen die Mutter eines sechsjährige Mädchens. Das Kind wird im Sommer eingeschult. Die Frau sah mich, kam an und legte gleich los:

Also unsere Nicola wird zur Zeit von sehr vielen Spezialisten untersucht. Ihr Wortschatz ist um 30 % kleiner, als der anderer Kinder in ihrem Alter. Außerdem hat ein weiterer Spezialist ADHS festgestellt, Nicola mangelt es an Sozialkompetenz…

Es folgte die Aufzählung sämtlicher kinderärztlicher Modediagnosen.

Aber bei mir in der Werkstatt im Kindergarten…,

versuche ich einzuwenden. Die Frau greift nach meinem Ellenbogen:

Und neulich meinte der Ergo-Therapeut. Fünf Prozent… schaffen das nie!

Immer wieder versuchte ich, Nettes über das Kind einzustreuen. Es gelang mir nicht.

In der Werkstatt

Szenenwechsel: In der Werkstatt im Kindergarten ist jeder Tisch und jede Hobelbank auf Kinderhöhe. Um meinen Rücken zu schonen habe ich einen Drehstuhl auf Rollen. Wenn ich darauf sitze, bin ich nämlich genau so klein wie die Kinder und muss mich nicht bücken. Das ist der Grund, warum ich den Kindern normalerweise nicht erlaube, meinen Stuhl zu nehmen.

Eines der Kinder sitzt auf einem Kinderstühlchen vor der hohen Mischpalette mit der farbigen Tinte und kann kaum sehen, was es da macht. Ich überlege, ob ich es auffordere, sich hinzustellen. Das Problem ist, die Kinder sind, um mit Gordon Neufeld zu sprechen, über die Gleichheit an mich gebunden. Sie tragen dieselben Tischlerschürzen wie ich, nur in Miniformat. Und weil ich zumeist nicht stehe, sitzen auch sie, wann immer es gerade möglich ist. Das weiß ich, und entscheide mich, das Kind nicht aufzufordern, sich hinzustellen. Statt dessen schiebe ich ihm meinen hohen Drehstuhl hin. Eine gute halbe Stunde versenkt sie sich in ein Spiel mit der Pipette. Sie mischt Farbe um Farbe, Nuance um Nuance. Es bekommt vom Trubel in der Werkstatt nichts mehr mit.

Als dienende Person in meinem Malort bin ich es gewöhnt, immerzu darauf zu achten, dass niemand sein Spiel unterbrechen muss. Das hat mir Arno Stern beigebracht. Fühlt die spielende Person sich geschützt, so kann sie sich unbeschwert entfalten.

Es ist 11:30 Uhr. Ich schicke die Kinder in ihre Gruppen zum Mittagessen. Müde und glücklich ziehen sie ab. Aber nicht alle. Das Kind an der Mischpalette sagt: “Frau Selhorst, heute helfe ich Dir beim Aufräumen.” Ich hatte mich schon bei der Konzeption der Werkstatt entschieden, dass die Kinder das nicht machen müssen. Zum einen weil sie das an jedem anderen Ort im Kindergarten schon regelmäßig machen und zum anderen, damit sie ihre ohnehin kurzen “Werkstattzeiten” voll auskosten können. Ihr könnt Euch sicher meine freudige Überraschung vorstellen. Beim Aufräumen stellt sich heraus, dass das Kind die Ordnungsprinzipien der Wekstatt voll erfasst hat. Es muss mich sehr genau beobachtet und die Zusammenhänge erkannt haben. Deshalb arbeitet es zügig und sehr effektiv. Zum Schluss winkt es und ich rufe ihm nach: 

Ich freue mich über den schönen Vormittag mit Dir, Nicola!

Freude am Kind 

Nach meiner Auffassung ist es eine der wichtigsten Aufgaben von Kindergärtnerinnen und anderen Betreuern und Lehrern eine unERMESSLICHE Freude an den Kindern zu kultivieren. Das steckt die ganze Welt an. Das Kind selbst zuallererst und auch überkritischen Eltern erweicht es mit der Zeit das Herz, so dass Liebe, Zuversicht und Wohlwollen fließen können. Das beschreibe ich in meinem Buch

“Eltern wollen Nähe. Verteidigung einer Sehnsucht”.

Mein Mann und sein Freund hatten beide eine 5 in ihrem ersten Diktat auf dem Gymnasium geschrieben. Meine Schwiegermutter traf die Mutter des Freundes und sprach sie auf das Fiasko der beiden Jungen an. Die aber wehrte sich gegen jegliche negative Beurteilung. Fast schon stolz wies sie meine Schwiegermutter darauf hin: “Mein Junge hat eine gute 5.” Meiner Schwiegermutter verschlug es die Sprache. Der Junge mit der guten 5 entwickelte sich prima. Heute ist er ein niedergelassener Internist und ein zufriedener Zeitgenosse. Er hatte als Kind jemanden, der an seine Entwicklungsfähigkeit glaubte, statt ihn von Fremden vermessen zu lassen.

4 Kommentare

  1. Liebe Stefanie
    Ich mag so sehr Deine Beiträge!
    Es ist wunderbar, wie liebevoll und auch differenziert Du über die Dinge schreibst, und wie sehr Dir die menschliche und wirklich Kinder wertschätzende Sicht auf die Welt wichtig ist. Das ist es auch, was mir am Herzen liegt, das möchte ich in den Eltern wieder wecken, wenn sie es vor lauter Diagnosen und Messwerten aus dem Auge verloren haben…
    Liebe Grüße
    Wibke

  2. Liebe Steffi,
    ich stehe Dir in vielen Deiner Ansichten und Überzeugungen nahe.
    Das Messen, Einordnen, Bewerten und Diagnostizieren, das häufig Wohlwollendes Beobachten von individueller Entwicklung entbehrt, tut mir oft in der Seele weh.

    Dennoch hatte der letzte Absatz dieses Beitrags einen komischen Beigeschmack für mich.
    Es ist schön, dass der Schulkamerad Deines Mannes ein zufriedener Internist geworden ist. Trotz schlechter Diktate.
    Ich wünsche mir jedoch im öffentlichen Raum mehr Gespräch über Zufriedenheit oder Unzufriedenheit im Leben, unabhängig hoch angesehener Berufe.
    Was ist mit den Schülern, die es schwer in der Schule haben und eben wirklich nicht einen “bildungsnahen”, aber dennoch erfüllten Weg gehen.
    So häufig sprechen wir, auch in Zeitungen, von Persönlichkeiten, die es, “trotz” schwieriger Schullaufbahn, “zu etwas gebracht” haben.
    Damit bleiben wir in unserem Bewertungssystem.
    Vielleicht hast Du das gar nicht so betonen wollen, aber da ich sehr viel mit Menschen zu tun habe, die eben keine akademischen Berufe ausüben, keine Anerkennung ihres Tuns erfahren, bin ich an dieser Stelle sensibel.

    Herzliche Grüße
    Theresa

  3. Liebe Theresa,

    ich habe überlegt, warum ich dieses Beispiel angegeben habe. Und ehrlich, ich weiß es nicht mehr. Es fiel mir beim Schreiben so ein.

    Wir reden hier über leistungsmäßig als nicht hinreichend befundene Schüler, die mit Modediagnosen abgestempelt und einer aufwendigen Diagnostik und Therapie überantwortet werden. Eltern oder andere Bindungspersonen mit einem wohlwollenden Blick auf die Stärken, können die Kinder vor dieser Mühle bewahren. Viele machen das auch, aber leider nicht alle. Es gibt Eltern, die sich obrigkeitshörig unterordnen. Leider.

    Ein Kind, dessen Eltern der mäkeldnen Welt beizeiten gesagt haben: “Mein Kind ist völlig in Ordnung. Ich glaube in ihm steckt Gutes.”, das wird auch Gutes erreichen. Das gilt für jede Berufung, die ihm entspricht. Das hast Du völlig Recht Theresa. Gut, dass Du uns darauf aufmerksam gemacht hast. Ich würde mich freuen, wenn Du uns dazu ein Beispiel aufschreiben könntest. Deine Stefanie

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