Was am See geschieht – So überwinden wir die Funktionalisierung unserer Kinder

Am See

Heute trete ich schwer in die Pedalen und schaue leicht über die eben noch glatte Oberfläche des Sees. Mir brennt mein Herz. Es scheint vor Freude zu zerbersten.

Warum? Ein Schwan landet gerade umständlich mit Hilfe eines urkomischen Bremsmanövers auf dem Wasser. Er gesellt sich zu seinen Artgenossen. Ich sehe das und fühle diese freudig glühende Wärme, die mich jedes Mal überflutet, wenn ich das Andersen-Märchen vom hässlichen Entlein lese.

Bindung vorweggenommen?

Gibt es Bindung schon bevor man sich kennt? Bindung über Gleichheit? Gleichheit zu einem Anderen bezogen auf eine Entwicklungsstufe, die man erst in der Zukunft erreicht haben wird? Muss ich das überhaupt fragen? Eins weiß ich ganz genau: Bei mir gibt es diese Bindung zu Menschen, die ich noch nicht kenne. Sie steht oft Jahre vor der ersten Begegnung so fest wie der Fels in der Brandung.

Mein Mann war schon seitdem ich ein kleines Kind war jemand, an dessen Erblühen ich mich erfreue und umgekehrt. Als ich 22 war, erkannten wir uns gegenseitig sofort, weil wir ja irgendwie schon immer aneinander gebunden waren.

Bindung statt freudlosen Funktionalisierung

Später zogen wir unsere drei Kinder groß. Dabei wurden wir zunehmend mit dem funktionalistischen Menschenbild hinter dem Schulsystem und der Bildungspolitik konfrontiert. Da geht es nicht um Erblühen. Keineswegs. Das Gegenteil ist der Fall. Es geht um Funktionieren, Maßnehmen an der Norm, um das Zurechtbiegen bei Abweichungen, und es geht um eine nicht endende Freudlosigkeit. Ich erinnere mich an den Tag, als Antons Musikschullehrer ihm das Recht auf seine Freude am Trompetenspiel absprach. Warum? Einfach weil er die Musikschule nicht würdig repräsentieren kann. Punkt. Hans, unser anderer Junge, war oberflächlich im Deutschunterricht. Warum? „Weil er ein Junge ist“, sagte die Lehrerin. Nur einer der fünf Jungen, die es in diese Gymnasialklasse geschafft hatten, war nicht oberflächlich. „Warum er denn nicht?“, fragte ich die strenge Lehrerin. „Er liebt und schätzt die psychodynamischen Stuhlkreise der Mädchen.“ Das hieß für mich: Dieser Junge funktioniert in der Welt der emanzipatorischen Bestrebungen dieser Lehrerin. Hans nicht. Punkt.

Wir beschützten unsere Kinder von den unangemessenen – ja oft außerdem noch ausgesprochen bildungsfernen – Ansprüchen dieses und ähnlichen Lehrpersonals.

Wir bleiben auf der Spur der Freude

Wie das hässliche Entlein beharrlich seinem zukünftigen Sein auf der Spur blieb, so blieben wir auch bei unserem politisch völlig unkorrekten persönlichen Beschützen und Behüten unserer Kinder. Bis sie es nicht mehr brauchten.

An die langjährige Außenseiterposition als Unzeitgemäße, auf eine Berufskarriere Verzichtende, hatte ich mich längst gewöhnt. Ich hatte mich in ihr eingerichtet.

Plötzlich aber trat ein Ereignis ein. Dieses Ereignis stellt die spiegelglatte Oberfläche des Sees dar, auf dem die anderen Schwäne schwimmen, und in dem ich mich zum ersten Mal in meiner neuen Entwicklungsstufe sehen konnte. Auf einem Seminar stellte ich im Rahmen einer Vorstellungsrunde meine Konzeption einer Werkstatt in einem Kindergarten dar. – Dort war ich inzwischen tätig. – Nach der Vorstellungsrunde fragte mich eine andere Teilnehmerin, ob ich Arno Stern kenne. Nein sagte ich, wieso? „Na, weil Du fast genauso argumentierst wie er.“

Seitdem bin ich ein Schwan unter Schwänen. In Paris ließ ich mich von Arno Stern zur Dienenden im Malort ausbilden. Nun kommen vier Mal pro Woche Kinder, Erwachsene und Ältere in meinen Malort um sich im Schutz seiner Wände zu sich selbst hin zu entwickeln… Es herrscht die reine Freude. So sollte es ja auch von Anfang an sein, nicht wahr?

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