Echte Freunde: Bindungsorientierte Eltern

rechts, links, oben, unten oder kariert

Nora Imlau betrachtet in ihrem Aufsatz „Falsche Freunde“ (https://www.nora-imlau.de/falsche-freunde/) die bindungsorientierte Elternschaft als gefährdet, zum Opfer einer Unterwanderung von „Rechts“(sic.) zu werden. Wörtlich schreibt sie aber noch ein bisschen mehr: „Womit wir wieder bei der bindungsorientierten Elternschaft wären. Die für eine Unterwanderung von rechts damit geradezu den idealen Nährboden bereitet.“

Schaue ich ganz genau hin, so geht sie doch ganz sachte über den warnend erhobenen Zeigefinger hinaus. Das vordergründige Opfer, die bindungsorientierte Elternschaft, ist aus ihrer Sicht durchaus auch aktiv als Täter. Denn sie, die bindungsorientierte Elternschaft, bereitet ja den idealen Nährboden für die Unterwanderung von rechts. Das scheint ein Tatbestand zu sein.

Zu diesem gut versteckten Vorwurf, nehme ich – auch aus autobiografischer Sicht – gerne Stellung.

Das Dritte Reich (Rechts) war ein zutiefst bindungsfeindliches Regime, das die Bedürfnisse nach Bindung in den Familien mit Füßen trat. Folglich ist Bindung zwischen Eltern und Kindern eher un-rechts. Hier zwei Beispiele:

Kopulationsheime

Es wurden arische Kinder außerfamiliär und in Heimen gezüchtet. Diese Zucht galt einer neuen arischen Elite. „Kopulationsheime“ nannte die Schriftstellerin Sybille Lewitscharoff die Lebensborn-Heime, die rassistische Zuchtanstalten waren. Ziel der Lebensborn-Heime, laut ihrer Satzung: „Rassisch und erbbiologisch wertvolle werdende Mütter unterzubringen und zu betreuen, bei denen nach sorgfältiger Prüfung der eigenen Familie und der Familie des Erzeugers (…) anzunehmen ist, dass gleich wertvolle Kinder zur Welt kommen, für diese Kinder zu sorgen, für die Mütter der Kinder zu sorgen…

Was ist aus diesen Kindern, die ohne Familien aufwachen mussten, geworden?

Die Sendung MDR Zeitreise beantwortet diese Frage: „Die meisten von ihnen leben bis heute in Deutschland, ohne die Details ihrer Vergangenheit zu kennen. Sie sind traumatisiert, leiden zeitlebens unter Verlustängsten und haben Schwierigkeiten, Beziehungen und Bindungen einzugehen. … Viele Lebensborn-Kinder vermeiden es, über ihre Herkunft zu sprechen. Sie fürchten die Macht der Mythen, die sich um die Organisation ranken und ein schlechtes Licht auf die Mutter, den Vater und auch auf sie selbst werfen.“

https://www.mdr.de/zeitreise/lebensborn-heime-sex-fuer-fuehrer-volk-und-vaterland100.html

Trennung innerhalb des Elternhauses von Geburt an

Die Mütter im Dritten Reich wurden systematisch dazu angehalten, ihren Säuglingen, Kleinindern und Kindern Bindung zu verweigern, bzw. vorzuenthalten.

„Die Lungenfachärztin Johanna Haarer schrieb 1934 den später in fast jeder Familie vorhandenen Erziehungsratgeber: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, in welchem sie die nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen fast flächendeckend verbreitete. Unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ wurde es im Carl-Gerber-Verlag, Nürnberg, zum letzten Mal im März 1996 (!) aufgelegt. Die Gesamtauflage betrug bis dahin ungefähr 1,2 Millionen.

In dem Ratgeber empfiehlt sie den jungen Müttern, für ihre Säuglinge insofern „nicht da zu sein“, als sie ihnen versagende Kälte verordnet, wenn es um die Befriedigung der kindlichen Bildungsbedürfnisse geht. Das fängt schon unmittelbar nach der Entbindung an. In einem Interview zu ihrem Buch: „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ beschreibt Sigrid Chamberlain, selbst Opfer dieser Erziehungsmethode, den Lebensanfang vieler nach Haarer erzogenen Neugeborenen im Dritten Reich:

„Das Kind soll tags wie nachts in einem stillen Raum für sich sein. Die Trennung von Familie und Kind beginnt gleich nach der Geburt: Sobald der Säugling gewaschen, gewickelt und angezogen ist, soll er für 24 Stunden allein bleiben. Erst danach soll er der Mutter zum Stillen gebracht werden. Von der ersten Minute des Lebens an wurde also alles getan, um die Beziehungsunfähigkeit zu fördern. Alles war verboten, was Beziehung förderte.“ (Chamberlain,S. (5. 2009). Anleitung zur Kaltherzigkeit. Säuglingspflege im Nationalsozialismus;

http://www.psychosozial-verlag.de/catalog/rezensionen.php?id=1298

 B. Tambour Interviewer“) (aus: Selhorst, Stefanie, Eltern wollen Nähe. Verteidigung einer Sehnsucht 2016)

Für Hitler waren Trennung und Bedürfnisferne im Elternhaus ein modernes Anliegen:

„Was wir von unserer deutschen Jugend wünschen, ist etwas anderes, als es die Vergangenheit gewünscht hat. In unseren Augen, da muss der deutsche Junge der Zukunft schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Wir müssen einen neuen Menschen erziehen, auf dass unser Volk nicht an den Degenerationserscheinungen der Zeit zugrunde geht.“ – Aus einer Rede vor 54.000 Hitlerjungen in Nürnberg, 14. September 1935 (Lindemann, T. (kein Datum.) Quotez.net. abgerifen am 09.04.2014 von Adolf Hitler Zitate:

http://www.quotez.net/german/adolf_hitler.htm

G. Streicher sagte 2004 in einem Vortrag „Das Kinderopfer des Dritten Reichs. Bindungsunfähigkeit als Ergebnis faschistischer Pädagogik“ auch etwas über den Nutzen der familiären Bindungsarmut für den Staat:

„Es scheint bei den Ideologen des Nationalsozialismus ein Wissen davon gegeben zu haben, dass der Mensch sich umso besser eignet, im Interesse der Expansion und des Machterhalts eines Systems zu funktionieren, je mehr seine Bindungsfähigkeit im frühen Alter zerstört wurde. Er wird zum willfährigen Werkzeug eines jeden, der ihn missbrauchen will.“ (Streicher, G. (2004) Das Kinderopfer des Dritten Reichs. Bindungsunfähigkeit als Ergebnis faschistischer Pädagogik. Festkongress zu Jirina Prekops 75. Geburtstag „Ohne Nestwärme kein freier Flug“. Zell am See, AT)

Auch Kristina Tambke kommt in ihrer Diplomarbeit (Tambke, 2010) bei Prof. Dr. Rudolf Leiprecht zu einem ähnlichen Befund:

„Durch die unsichere Bindung zwischen primärer Bezugsperson und dem Kind wurde also die Entwicklung einer sicheren individuellen Identität verhindert. Der Nationalsozialismus lieferte anschließend eine selbstfremde Ersatzidentität.“ (Tamke, K. (14.12.2010). BKGE, Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa.

https://www.bkge.de/Downloads/Publikationen/Qualifikationsarbeiten/Tambke-Transgenerationale_Weitergabe_traumatischer_Erfahrungen_kriegs-_und_vertreibungsbelasteter_Kindheiten-2.pdf?m=1427270931&

Die Auswirkungen der emotionalen Trennung zwischen Eltern und Kindern im Dritten Reich sieht die Diplomandin folgendermaßen:

„Kinder lernen an ihren nahen Bezugspersonen, eigene Emotionen wahrzunehmen und zu benennen. Durch diesen Entwicklungsschritt werden Kinder erst in die Lage versetzt, anderen Menschen Empathie entgegenbringen zu können. Weil die Kriegskinder durch NS-Erziehung, Krieg und Flucht oft nicht fähig waren, ihre Emotionen wahrzunehmen, waren sie häufig auch unfähig, sichere Bezugspersonen für ihre eigenen Kinder zu werden. Weil sie ihr emotionales Innenleben ignorierten, waren sie auch für ihre eigenen Kinder emotional unzugänglich. Deshalb leiden nun auch viele der Kinder der Kriegskinder als dritte Generation unter den Folgen von NS-Erziehung, Krieg, Flucht und Vertreibung. Oft haben sie Beziehungsschwierigkeiten, weil sie nicht ausreichend dazu fähig sind, ihre wirklichen Bedürfnisse wahrzunehmen oder partnerschaftliche Zuneigung zu zeigen und zu empfangen.“

Einmal fragte ich Dr. Jirina Prekop, wie es möglich gewesen sei, die beschriebene weit verbreitete Trennung zwischen Eltern und Kindern psychisch zu überstehen. Sie sagte: „Nicht nur die Entfremdung von dem Instinktiven wirkt bis heute. Auch die Instinkttreue der tapferen intuitiven Mütter strahlt und nimmt Kreise.“

Genau an dieser Stelle kann ich Frau Imlau nicht beipflichen, wenn sich befürchtet, die Naturnähe der bindungsorientierten Eltern würden einen Weg zum „Rechts“ bahnen. Hier ist es ja ganz genau umgekehrt. Die von Hitler empfohlene moderne Abwendung vom Bindungsbedürfnis des Kindes war unnatürlich. Der komplette Schaden konnte deshalb abgewendet werden, weil es Eltern gab, die nicht modern sein mussten und ihrer intuitiven und natürlichen Hinwendung zu den Bedürfnissen ihrer Kinder nachgegangen sind.

Jetzt werde ich autobiografisch, denn ich selber habe das Glück aus zwei Familien abzustammen, die Hitlers Hereinregieren in ihre bürgerlichen Familien aktiv und erfolgreich abgewehrt haben. Auch ihre Integrität haben sie nicht dem Politischen geopfert. Das ging bei meinem Großvater sogar so weit, dass er einen hart erarbeiteten Lehrstuhl abgelehnt hat, weil er nicht in die Partei eintreten wollte.

Schutz vor Totalitarismus

Auch vor diesem Hintergrund, glaube ich, dass die beste Prophylaxe gegen ein totalitäres Regime in dem Subsidiaritäts-Prinzip gegenüber der Familie liegt. Nur wenn sie sich nicht selber weiterhelfen kann, soll sich der Staat einmischen dürfen. Und dann haben Frau Imlau und ich alles, was wir anstreben. Ein unbewertetes Nebeneinander von: Flasche und Brust; Naturheilkunde und Homöopathie; bei den Eltern zu Hause oder Kita oder auch beides je halbtags (Kihata); Erfüllung als Hausfrau und Mutter oder in der Erwerbs-Karriere; Kaiserschnitt oder Spontangeburt… Man nennt das auch Vielfalt oder in der Ökologie Diversität. Ohne Not und Hilflosigkeit in einer Familie geht das weder den Staat noch die Gesellschaft irgendetwas oder beide nen Dreck an.

Ich betrachte bindungsorientierte Eltern als Segen für unsere Gesellschaft und habe es nicht gerne, wenn sie verunsichert werden. Sie sind z. B. auch ein Segen für die Bemühungen von Kindergärtnerinnen, denn auf ihrer Leistung baut die Arbeit dort auf. In ihrer Großzügigkeit wirkt bindungszentrierte Elternschaft segensreich für alle, denn deren Kinder werden erfindungsstarke und unangepasste Erwachsene; oder einfach nur glücklich.

Aber am besten ist diese Nachricht: Sie, die bindungsorientierte Elternschaft, beugt jedem Regime über das Privatleben der Familie vor, sei es nun rechts, links, oben, unten oder kariert.

Wenig willkommen in der Ganztagswelt

Im Hamburger Café moki´s goodies ist Kindern bis 6 der Zutritt verboten, ein Mangel an Willkommenskultur, eindeutig. Aber wie ist es dort, wo nur Kinder sind? Lese ich etwas über Qualitätsoffensiven oder gar über das „Gute“ Kitagesetz, komme ich gar nicht auf die Idee, all die glamourösen diese Ganztagswelten auf ihre Kinderfreundlichkeit hin abzuklopfen. Irgendwie scheint sie vorausgesetzt. Schauen wir dem Gaul doch heute einmal ins Maul!

Erwachsene lieben das Willkommen

Der entscheidende erste Tag im neuen Job, das Blümchen auf dem Esstisch im Urlaubsdomizil oder auch nur der erste Besuch bei den zukünftigen Schwiegereltern: Wir, die Erwachsenen, legen großen Wert auf einen herzlichen Empfang und werden auch nicht müde, unsere zarten und feinen Antennen für das Willkommen unserer Person auszurichten. Willkommen-Heißen ist fester Bestandteil im korrekten Miteinander unter Erwachsenen. Zu Recht auch.

Doch was ist mit den Kindern?

Neulich erst las ich in ein facebook-post von familylab.de. Eine Rebecca Eans sagte dort, dass die Wasserflasche ihres Sohns in der Schule in eine „Schachtel der Scham“ gelegt worden war, weil er sie vergessen hatte. Sie selber habe einmal ihr Portemonnaie in einem Hotel vergessen. Dieses wäre ihr höflich zurückgegeben worden. „Wir werden unterschiedlich behandelt; nicht wegen unseres Verhaltens selber, sondern wegen unseres Alters.“ 

Diese Vermutung teile ich nicht. Ich glaube, es wird in einer von der Ökonomie beherrschten Gesellschaft letztendlich besonders derjenige höflich behandelt, der den Dienstleister auch persönlich entlohnt. Weniger respektvoll begegnet man in der Regel der Person, für die die öffentliche Hand bezahlt. Wäre Frau Eans verpflichtet gewesen, ein für sie unentgeltliches öffentliches Hotel zu nutzen, dann hätte auch sie ihre Geldbörse wahrscheinlich nicht wiederbekommen, ohne zuvor dafür beschämt worden zu sein. Sie wäre eben keine bezahlende Kundin gewesen.

Wie kommt die folgende Situation zustande?

Eine Großmutter bringt ihren Enkel in seinen Gruppenraum im Kindergarten. Statt eines Willkommens eine weit ausladende Bewegung des linken Arms der Erzieherin, der dann abrupt 20 cm vor ihren Augen stoppt. „In 3,5 Minuten können Sie mit Ihrem Kind wiederkommen, dann ist es 8.“ Karlchen, der Enkel ist fünf Jahre alt und er hat einen beitragsfreien Kita-Platz. Dem geschenkten Gaul schaut niemand ins Maul.

Dabei gäbe es in diesem Maul so viel zu sehen. Ich schau jetzt einfach mal hinein. Vielleicht finde ich dann auch eine Erklärung, warum es mit Karls früh- und spätkindlicher Bildung nicht so recht vorankommt.

Was hat Karl aus dieser kleinen Alltags-Szene gelernt?

  • Er hat gelernt, dass weder er noch seine Großmutter grundsätzlich und von Natur aus oder sogar ihrer selbst wegen in seiner Ganztagswelt willkommen sind.
  • Es dämmert ihm immer mehr, seine Erzieherin ist eine Außenstehende. Zu ihm, Mama, Papa und Oma gehört sie nicht und sie spielt in seinem Orbit nicht mit. Das wäre ja auch eigentlich egal, wenn sie keine Macht hätte. Die hat sie aber. Sie hat nicht nur die Macht, ihn und seine Spielkameraden zu maßregeln, sondern sogar seine geliebte Oma. Die, die alles weiß und die ihn, Karl, als Hilfsgärtner auserwählt hat. Noch am Samstag hat sie ihm gezeigt, wie man Kartoffeln setzt und ihm sein eigenes Beet zugewiesen. Sie kann und weiß einfach alles, diese Oma.
  • Auch heute hat er wieder einmal gelernt, die Erzieherin zu fürchten und sich den ganzen Tag still in den Hintergrund zu drücken. Will er etwas Neues ausprobieren, so schaut er vorher, ob die Erzieherin in seine Richtung schaut. Am Wochenende wird er dann Oma fragen, oder auch Papa. Doch bis dahin weiß er nicht mehr, was er eigentlich fragen wollte. Das war am letzten Wochenende auch so.

Die Ausgangsfrage war aber gewesen, wie es zu dieser Szene kommen konnte. Ganz einfach. Die Erzieherin bekommt einen recht bescheidenen Lohn für die Betreuung von viel zu vielen Kindern. Sie möchte so – so – so – so gerne jedem einzelnen von ihnen gerecht werden.

Das Dilemma der Erzieherin

Eigentlich möchte sie auch Karl morgens in seine grünen Augen sehen und ehrlichen Herzens sagen: „Schön, dass Du da bist, ich habe schon auf Dich gewartet. Erzählst Du uns heute wieder, was Deine Oma alles kann?“  Doch das kann sie nicht, weil immer zu viele Kinder an ihr zerren und die Krankschreibung der Kollegin um noch eine Woche verlängert wurde. Ja, „zerren“ ist wieder so ein abfälliger Ausdruck für eine mitunter auch zarte Bitte um Kontakt. Das wiederum zerrt am Gewissen der Erzieherin und es macht sie auch wütend. Sie ist Tag für Tag in der Situation, gegen ihr Gewissen handeln zu müssen, weil sie mehr Kindern gerecht werden muss, als ein Mensch unter natürlichen Umständen kann. Statt also mit offenem Herzen jedem einzelnen Kind ein herzliches Willkommen schenken zu können, muss sie sich über jede Krankmeldung eines Kindes freuen. Das zerrt noch zusätzlich.

So beginnt sie nachzudenken, wer an diesem Missstand die Schuld trägt. Sicher, jetzt hat sie es: Es sind die Eltern, die permanent die Betreuungszeit überziehen. So viele Eltern bringen ihr Kind zu früh oder holen es zu spät ab. Die werden ab jetzt erzogen, schließlich liegt es im Beruf der Erzieherin, Probleme erzieherisch zu lösen. Leider, sie mag es sich das selber kaum einzugestehen, ist das Problem nicht gelöst. Die 3,5 Minuten ohne Karl und sein anschließendes Zurückscheuen und Ausweichen haben ihr den Arbeitstag nicht wirklich leichter gemacht. Im Gegenteil, die die den Kontakt zu ihr scheuen, sind so fremd und seltsam…  Sie fühlt es und es spiegelt sich auch zurück: Ihr Auftreten ist nicht liebenswert, dabei ist ihr ganzes Herz voller Liebe. Aber ganz sicher ist sie im Recht. „Ach was?“, denkt sie, „In der letzten Supervision habe ich doch gerade gelernt, dass ich nicht ständig über meine Kräfte gehen soll, davon hätte am Ende niemand etwas… Die Kinder nicht und auch ich selbst nicht.“

Die Erzieherin taumelt zwischen zwei Welten hin und her:

Die Welt der Ökonomie

Bildungsökonomen, sie wähnen sich Wissenschaftler, rechnen die Kosten und den Nutzen von Kindern auf Heller und Pfennig genau aus. Den Kinderalltag flächendeckend und ganztags in Institutionen zu verschieben, ist die dringende Empfehlung dieser grauen Eminenzen. Und so sieht sie jetzt auch aus, die Lebenswelt der Kleinsten. Sie ist das Gegenteil von jenem berühmten Dorf, dessen es bedarf, um ein Kind zu erziehen. Die institutionelle Kinderwelt ist: konstruiert; konzipiert; künstlich; nicht intuitiv; berechnend; unter Bedingungen und Voraussetzungen gestellt; unflexibel; starr; kollektiv; nutzenorientiert; öffentlich; mit wenig Schutz und Rückzug; ein Minimum an freiem Spiel dafür viel Training nach Lehrplan (spielerisch, versteht sich) …

Bestandteile der Ökonomie sind das Käufliche und das Verkäufliche. In den – sagen wir einmal wenig komplexen – Vorstellungen der grauen Eminenzen kann die Maschine „Kind“ problemlos in dieses am Reißbrett geplante System eingliedert und -gefügt werden. Entsprechend mager fällt auch das Gehalt der Erzieherin aus.

Die Welt der Bindung und der Geborgenheit

Bindung und Geborgenheit sind weder verkäuflich noch käuflich. Sie entspringen dem Seelengrund und lassen sich keinesfalls als Größe in ökonomische Algorithmen veranschlagen. Beide wachsen aus dem prinzipiell unzerstörbaren Reich der unsichtbaren und nicht quantifizierbaren Liebe. Und dennoch haben Bindung und Geborgenheit – quasi als nicht beabsichtigte Nebenwirkung – ökonomische Auswirkungen. Je mehr Bindung, desto leichter fällt dem Kind der Zugang zur Bildung. Frei für den Erwerb von Bildung sind insbesondere die Kinder, die sich immerzu gut und bedingungslos versorgt, angenommen und willkommen geheißen fühlen können: „Die Bindung ist der Kontext, in dem das Kind reif wird.“ Dieser Satz stammt von dem Entwicklungspsychologen Prof. Gordon Neufeld.

Die intuitive oder sogar zusätzlich auch entwicklungspsychologisch gebildete Kindergärtnerin stößt von morgens bis abends an die Grenzen des von den Bildungsökonomen ausgerechneten Systems. Ganz einfach eben, weil Kinder keine Maschinen sind, deren Bedürfnisse sich auf frühkindliche Bildung beschränken. Und auch deren Eltern sind keine Maschinen. Eben waren wir ja Zeuge, als Karls Großmutter aus einer menschlichen Schwäche heraus 3,5 Minuten zu früh kam und so den Arbeitstakt der Kindergärtnerin störte.

Die Fragen des Kindes

Kinder sind auf der ständigen Suche nach Antworten, die nicht bis zum Abend oder Wochenende warten können. Antworten auf Fragen, die den Kern ihres Seins betreffen, sind die Voraussetzung für die kindliche Bildungsfähigkeit. Die immer selben Erwachsenen, die dem Kind ohne Unterlass und mit größter Zuverlässigkeit dienen, bereiten den Boden für die Reifwerdung. Der Kontext „Bindung“ ist die unabdingbare Bedingung für Entwicklung.

  • Wo bin ich hier gelandet? Antwort 1: Zu Hause und bei mir. Du bist da, wo ich Dich sehnlichst erwartet habe, unter meinem Schutz. Hier werde ich für Dich sorgen, damit Du groß und stark werden kannst. Antwort 2: Bei mir hier im Kindergarten. Deine Eltern haben ihn für Dich ausgesucht, weil auch ich Dich so mag, wie du bist.
  • Wo komme ich her? „Dich hat der liebe Gott geschickt.“, das war die Botschaft an unsere drei Kinder. Andersgläubige habe andere Antworten. Das Kind freut sich über diese.
  • Wer bin ich? Antwort: Du bist Du, das wirst Du später noch fühlen können. Solange Du das aber noch nicht selber erfahren hast, sind wir beide gemeinsam. Ich wähle Dich aus und du bist ein Auserwählter / eine Auserwählte. Wenn Du lachst, dann lache ich. Musst Du weinen, bist Du so lange an meiner Schulter willkommen, bis Du ganz tief spürst: „Ich kann die Lage nicht ändern, aber sehr wohl kann ich mich jetzt etwas Neuem zuwenden.“ Hast Du Angst, so schütze ich Dich. Wenn Du Mut hast, sehe ich, wie Du die Welt eroberst. Überhaupt, ich sehe Dich und höre Dich und schon manches von dem, was noch in Dir schlummert…
  • Wer steht im Zentrum meiner Umlaufbahn? Eine gute, starke Kindergärtnerin schafft es die Sonne im Universum der sie umkreisenden Planeten-Kinderschaar zu sein. Dafür braucht sie aber auch die Kompetenz, die ihr die Eltern (nicht die Behörden) verleihen. Sie selber braucht dafür den Schutz vor fremden Konzepten und Vorgaben. „Ich bin die Antwort für Dich.“, das kann ehrlicherweise nur die Kindergärtnerin sagen, die nicht von kinder- und familienfernen Erwachsenen eingeengt wird.

Die Falle für die gute Erzieherin

Will die Erzieherin ihren Kindern die Welt der Bindung und der Geborgenheit bieten und erschließen, …

Mit diesem Umstand muss sich eine Gesellschaft, die einseitig auf Kita setzt, auseinandersetzen. Die schlechte Erzieherin, die sich gegen ihre zarten und liebevollen Gefühle und ihr natürliches Bindungsstreben gepanzert hat, wird vom System der Bildungsökonomie insofern belohnt, als sie sich nicht verausgabt. Auf der anderen Seite wird die bindungsfreundliche Erzieherin sich in diesem System ständig an den Rand ihrer Kräfte bringen, sich verzehren.

Meine Apelle:

An die Leser dieses Beitrags: Schaut nicht weg, denn ich übertreibe nicht. Im meinem Malort ist mir innerhalb des letzten Monats drei Mal von Eltern bzw. Großeltern aus drei verschiedenen Kitas berichtet worden, wie sie im Beisein ihrer Kinder von Erzieherinnen erzogen oder zumindest gemaßregelt wurden.

An die Bildungsökonomen: Der wichtigste Einflussfaktor auf die Bildung ist die Bindung. Diese Größe entzieht sich Ihren Berechnungen. Sie bilden folglich die Realität falsch ab.

Die Erzieherin in der Kita mit ihrer Intuition zur Bedeutung der Bindung käme zu einem viel realitätsgetreuerem Modell. Doch wegen Ihrer fehlerhaften Abbildung des Kitaalltags wird sie zerrieben werden. Der Grund? Das bildungsökonomische Modell von der Wirklichkeit bestimmt die Rahmenbedingungen und die sehen viel Bildung und kaum Bindung vor. Das hat verheerende Folgen für das seelische Gleichgewicht aller am Kita-Geschehen beteiligten Menschen. Der einzige Mensch, der vom Unsegen Ihrer Arbeit nicht betroffen ist, das sind Sie.

An die Familienpolitiker: Geben sie den Eltern die für die Kita-Erziehung bereitgestellten Gelder selber in die Hand. Wenn diese damit zur Kita gehen, sind auch sie diejenigen, die bestimmen können, in welchem Alltagsmilieu ihre Kinder groß werden sollen. Eine solche für das Kind Schicksal schwere Entscheidung ist nämlich die höchst private Aufgabe von Eltern und nicht die des Staats. Der kann einspringen, wenn er nachweist, dass Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht werden oder werden können. Ansonsten bleibt er draußen.

Außerdem wird es Zeit, Kindergärtner/innen mindestens so zu bezahlen, wie Grundschullehrer/innen. Sie legen, wenn die Rahmenbedingungen es zulassen, mit ihrem großherzigen und einfühlsamen Bindungsangebot den Grundstein für die Befähigung des Kindes, seine Potenziale voller Freude und Unbefangenheit auszuschöpfen.

Geträumte Elternschule

Mein Traum ist samtweich und soll nicht enden

Im Traum bin ich Zeugin: Dort gibt es eine Gruppe von Kindern, die ihrer Wege geht durch eine Landschaft. Es wimmelt von Kratern und Stegen, Höhlen, Brücken und Wasserbecken, die durch kleine Bäche miteinander verbunden sind. Eine Kindergruppe kann sich in dieser Landschaft frei bewegen und nach Herzenslust spielen. Das tut sie auch.→ weiterlesen

Die besseren Eltern? Die Eltern! Teil 5: Sie gewährleisten Raum für Selbsterkenntnis

 

Im letzten Teil des Beitrags “Die besseren Eltern? Eltern!” geht es um ein sehr wichtiges Thema. Ich stelle die Frage danach, warum so viele Kinder mit exzellenten  Schulabschlüssen nicht wissen, was sie werden sollen. Die Antwort ist eigentlich ganz einfach.→ weiterlesen

Die besseren Eltern? Die Eltern! Teil 4: Sie garantieren Bildung

 

Das Störfeuer gegen intuitive, und das bedeutet immer bindungsfreundliche,  Eltern ist ein ausgewogener Mix: Rückständig seien sie, Helikoptereltern, überbehütend…  Im Gegenzug sei – so der politisch korrekte Irrglaube – die ganztägige Erziehung im Kollektiv der einzige Zugang zu Bildung, Selbständigkeit und sozialer Kompetenz. Tatsächlich aber gibt es keine Bildung ohne Bindung. Das bedeutet: gerade die intuitiven Eltern sind die Garanten von Bildung.→ weiterlesen

Zwischen den Jahren 2017 und 2018

Rückbesinnung

Zwischen den Jahren und vor dem Beginn eines meiner neuen Lebensjahre ist auch für mich eine Zeit der Rückbesinnung. So wie ich nach einer Malstunde im Malort aufräumend die Stunde rekapitulieren lasse, so mache ich das jetzt für das ganze Jahr. Vor der Malstunde, wenn der Palettentisch gestimmt ist, wie ein Musikinstrument und bevor der erste Malspielende eintrifft, dann lese ich immer in einem meiner Bücher von Arno Stern. In „Die Spur. Gewesenes Kindsein“ steht ganz genau, warum ich im Malort, in der Werkstatt im Kindergarten und als Autorin genauso arbeite und diene, wie ich es mache.→ weiterlesen

Die besseren Eltern? Die Eltern! Teil 3: Sie streben nach Nähe

 

Das Kollegium und die Elternsprecher in dem in Teil 2 angeführten Bericht argumentieren aus der Sicht des Kollektivs. Eltern hingegen binden sich an ihre Kinder und sehen zuerst das Individuum. Sie stellen sich die Frage: Was tut meinem einmaligen Kind gut? Die Antwort: Nähe zu uns.

Die Befindlichkeit der Kinder dieser Mutter liegt nicht im Fokus der Schule. Es gibt sicher viele Eltern, denen eine Unterordnung der Bindungsbedürfnisse ihrer Kinder unter die Interessen des Kollektivs entgegenkommt. Anderen behagt sie gar nicht. Sie möchten selbst die Antwort für ihr Kind sein und wünschen die entsprechende Verantwortung. Oft werden sie, wenn sie ihr Unbehagen gegen übergriffige Einrichtungen äußern, als Helikoptereltern bezeichnet. Manche ziehen sich daraufhin gehorsam und eingeschüchtert zurück.→ weiterlesen

Die besseren Eltern? Die Eltern! Teil 2: Hier sind die Kinder wichtiger als die Schule

 

Mit meiner Schlussfolgerung, dass verpflichtende Klassenfahrten im Grundschulalter überflüssig sind, stehe ich nicht alleine da. Ich denke da gibt es eine hohe Dunkelziffer bei den Kritikern. Eine meiner Leserinnen schrieb mir: „Es ist in der Tat so, dass Kinder nach Klassenfahren mehrere Tage brauchen, bis sie wieder „geerdet“ sind. Unser mittlerer Sohn ist nach „Landschulwochen“ oft tagelang missmutig, regt sich über alles auf, bis er die Gelegenheit hatte, mal zu weinen und seinen Frust über die Woche rauszulassen. Ich musste ihn dann immer mehrere Tage vermehrt in den Arm nehmen etc.“→ weiterlesen

Die besseren Eltern? Die Eltern! Teil 1: Sie können Kindheit schenken

Scheinbar ist die Welt in Ordnung

An einem Montag setzten wir mit der Fähre auf die Nordseeinsel Amrum über. An den Tischen rund herum sitzen vielleicht 60 Kinder im Grundschulalter zwischen 6 und 11 Jahren.

Am Nachbartisch vier Mädchen: Eine Querschlanke, eine Athletische, die klassische Bohnenstange und eine kleine zarte Elfe. Die Kinder sind angespannt, und sie holen ihre Saugfläschchen aus den rosa oder lila Rucksäckchen. Die Flüssigkeiten gluckern in die Hälse. Zwischendurch immer wieder lautes Kreischen und Quietschen, das keinesfalls fröhlich oder ausgelassen klingt. Eher wie in einem schlechten Schauspiel, aufgesetzt. → weiterlesen